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einer von uns hatte überhaupt jemals für die Russen gearbeitet, weder in Staryje Doroghi noch
vorher), weshalb man auch die Kinder entlohnte, und vor allem, warum das unbedingt zwischen
zwei und sechs Uhr morgens und noch dazu mit einem solchen Aufruhr stattfinden mußte, all das
wird immer im dunkeln bleiben.
Die Russen verteilten aus unerforschlichen Gründen, vielleicht aber auch rein zufällig,
unterschiedliche Summen von dreißig bis zu achtzig Rubel pro Kopf; es war nicht viel, aber jeder
freute sich, erlaubte es doch immerhin einen gewissen Komfort für mehrere Tage. Erst bei
Morgengrauen kamen wir wieder in unsere Betten; wir suchten nach den verschiedensten
Erklärungen für das Vorgefallene, aber keiner begriff, daß es sich um ein glückliches Vorzeichen,
um das Vorspiel zum Heimtransport handelte.
Von diesem Tag an aber mehrten sich die Zeichen, auch wenn die offizielle Bestätigung noch
ausblieb; kleine, vage und schüchterne Andeutungen, aber hinreichend, um den Eindruck zu
verbreiten, daß endlich etwas in Gang gekommen sei, etwas geschehen werde.
Ein Trupp desorientierter, blutjunger russischer Soldaten traf ein; sie erzählten uns, daß sie aus
Österreich kämen und demnächst wieder aufbrechen müßten, um einen Ausländertransport zu
begleiten, wohin, wußten sie nicht. Das Kommando gab nach monatelangen fruchtlosen Eingaben
endlich Schuhe an die Bedürftigen aus; und plötzlich war der Leutnant verschwunden, so als ob er
gen Himmel gefahren sei.
Alles undeutliche, weil vieldeutige Zeichen; und selbst wenn die Abreise bevorstand: wer
garantierte uns, daß es die Heimfahrt und nicht eine neue Verlegung nach irgendeinem anderen Ort
bedeutete? Da wir mittlerweile eine gewisse Vertrautheit mit den Verfahrensweisen der Russen
erlangt hatten, schien es uns angebracht, unsere Hoffnung durch einen heilsamen Schuß Zweifel zu
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mäßigen. Auch die Jahreszeit trug zu unserer Unruhe bei: in den ersten zehn Septembertagen hatten
sich Himmel und Sonne verdüstert, die Luft war kalt und feucht geworden, die ersten herbstlichen
Regengüsse fielen und erinnerten uns an die Unsicherheit unserer Situation.
Straße, Wiesen und Felder verwandelten sich in einen trostlosen Sumpf. Durch die Dächer und
scheibenlosen Fenster des Roten Hauses drang reichlich Wasser und tröpfelte erbarmungslos in
unsere Betten. Niemand war mit warmer Kleidung versehen. Im Dorf sah man die Bauern mit
Karren voll Reisig und Brennholz aus dem Wald zurückkehren; alle, Männer wie Frauen, trugen
Stiefel.
Der Wind trieb einen neuen, beunruhigenden Geruch von den Häusern herüber: den herben Rauch
des feuchten brennenden Holzes, den Geruch des nahenden Winters. Ein neuer Winter, der dritte:
und was für ein Winter!
Aber dann kam endlich die Nachricht, die uns die Heimkehr verhieß, die Rettung, das Ende unserer
langen Irrfahrten. Sie erreichte uns von zwei verschiedenen Seiten, beide Male auf eine neuartige
und unerhörte Weise, jedesmal aber überzeugend, unverhüllt und alle Gedanken zerstreuend. Sie
wurde uns im Theater und durch das Theatef zuteil, und sie kam die schlammige Straße entlang, in
Gestalt eines berühmten und seltsamen Boten.
Nacht war es, es regnete, und in dem überfüllten »ansteigenden Saal« (was sollte man sonst am
Abend tun, bevor man unter die feuchten Decken kroch?) wurde zum neunten oder zehnten Male
der »Schiffbruch der Willenlosen« gegeben, ein formloses, aber beschwingtes Machwerk, das
seinen Witz aus gut getroffenen humorvollen Anspielungen auf unseren Alltag bezog. Alle hatten
wir es gesehen, wir waren bei jeder Wiederholung zugegen und kannten es mittlerweile auswendig.
Wir lachten jedesmal weniger bei der Szene, wenn ein Cantarella, der noch wilder war als das
Vorbild, im Auftrag der russischen Kannibalen ein ungeheures Blechgefäß verfertigte, in dem die
wichtigsten Persönlichkeiten der Willenlosen gekocht werden sollten; und wir sahen jedesmal mit
zunehmender Beklemmung, wie in der Schlußszene das Schiff auftauchte.
In dieser Szene, die es ja logischerweise geben mußte, erschien nämlich ein Segel am Horizont, und
alle Schiffbrüchigen eilen lachend und weinend zum ungastlichen Strand. Dieses Mal nun, gerade
als der Älteste, weißhaarig und gebeugt vom vielen Warten, mit dem Finger auf das Meer weist und
ruft »ein Schiff« und wir alle mit einem Kloß im Hals auf den heiteren und konventionellen Schluß
warten, um uns danach wieder einmal auf unser Lager zu verkriechen, gibt es einen unvermittelten
Krach, und der Oberkannibale, ein wahrer Deus ex machina, stürzt wie vom Himmel gefallen
senkrecht auf die Bühne. Er reißt sich den Wecker vom Hals, den Ring aus der Nase, den
Federbusch vom Kopf und ruft mit Donnerstimme: »Morgen fahren wir!«
Wir sind überrumpelt und begreifen zunächst einmal gar nichts.
Soll es ein Scherz sein? Aber der Wilde beharrt: »Ich meine es ernst, es ist kein Spiel mehr, diesmal
ist es wirklich soweit! Das Telegramm ist gekommen, morgen fahren wir alle nach Hause!«
Diesmal waren es wir Italiener, Schauspieler, Zuschauer und Komparsen, die die erschrockenen
Russen, die mit dieser im Text nicht vorgesehenen Szene nicht das geringste anzufangen wußten,
über den Haufen rannten. Im wüsten Durcheinander drängten wir ins Freie; Fragen über Fragen,
keiner, der eine Antwort wußte; bis wir plötzlich, eingekreist von Italienern, den Oberst entdeckten:
bestätigend nickte er mit dem Kopf; also stimmte es, es war wirklich soweit, die Stunde war
gekommen. Wir zündeten im Walde ein Feuer an und verbrachten - keiner konnte jetzt schlafen -
die Nacht unter Singen und Tanzen; wir erzählten uns gegenseitig die vergangenen Abenteuer und
gedachten der verlorenen Gefährten, denn es ist dem Menschen nicht gegeben, sich ungetrübt zu
freuen.
Am Morgen - im Roten Haus summte und brodelte es wie in einem schwärmenden Bienenstock -
sahen wir ein kleines Auto die Straße entlangfahren. Es waren so wenige in der letzten Zeit
vorbeigekommen, daß wir aufmerksam wurden, noch dazu, weil es kein Militärwagen war. Vor
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